Textausschnitt - Die gefrorene Zeit

Hörspiel von Friedrich Leufgen

 

Erzähler (Klänge von Wind, Herbstlaub, Schritte auf Kopfsteinpflaster, Soundsequenz)

Milchige Nebelschwaden durchzogen das kleine Eifeldorf und legten sich feucht auf das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes. Ein kühler Herbstwind, der schon den Geruch von Schnee in sich barg, ließ die verwelkten Blätter der Bäume durch die Gassen tanzen.

Mit den tanzenden Blättern kam eine alte Frau ins Dorf, die auf der Suche nach einem Mädchen mit einer silbernen Flöte die Gassen durchstreifte. Sie klopfte an die Türen der Häuser, um zu erfahren, wo dieses Mädchen wohnte. Doch ihr blieben alle Türen verschlossen, nur hinter den Fenstern sah man neugierige Augen.

Keiner wollte mit dieser Frau sprechen, da sie in den Augen der Menschen sehr ungewöhnlich und geheimnisvoll aussah: Graues Haar fiel ihr lang über die Schultern. Barfüßig auf einen Stock gestützt, stand sie in einen Umhang gehüllt, auf dem schwarz glänzenden Kopfsteinpflaster des Marktplatzes. In ihren Augen sah man, wenn sie zu den Fenstern der Häuser hinaufschaute, eine kalte Traurigkeit, die den Menschen Angst machte.

Ohne dass die Alte etwas über das Mädchen erfahren hatte, verließ sie das Dorf. Ihre letzte Hoffnung war ein Holzhaus, auf einem Hügel am Rande des Dorfes.

Es war für sie ein beschwerlicher Weg hinauf zu dem Haus. Ihr wurde das Atmen schwer, sie musste immer wieder stehen bleiben, um auszuruhen.

Doch als sie oben ankam, an die Tür klopfte und ein Mädchen ihr diese öffnete, spürte die Alte, dass sie am Ziel war.

Klopfen und Öffnen der Tür

Anna

Guten Tag! Kann ich Ihnen irgendwie helfen?

Alte Frau

Ja, mein Kind! Ich habe eine Frage. Besitzt du eine Flöte aus Silber, mit magischen Kräften?

Anna (ganz überrascht)

Ich habe eine silberne Flöte, aber sie hat keine magischen Kräfte. Und jetzt gehen Sie bitte.

Mutter (aus dem Inneren des Hauses)

Anna, wer ist da an der Tür?

Anna

Ach, es ist nur eine alte Frau, die sich verlaufen hat.

Alte Frau (laute Stimme)

Ich bin keine alte Frau, die sich verlaufen hat! Höre mir bitte zu, mein Kind! In meinem Land ist die Zeit verschwunden, es gibt keine Morgen und keine Tage mehr. Es existierten nur noch Dunkelheit und Stille. Die Menschen werden krank, ja, sterben sogar.

Anna (misstrauisch)

Warum sterben die Menschen in Ihrem Land? Dunkelheit und Stille sind doch keine Krankheit.

Alte Frau (mit zaghafter Stimme)

Sie sterben an Traurigkeit. Wenn du nicht mit mir kommst, werden wir alle an Traurigkeit sterben. Du bist unsere letzte Hoffnung! Nur du kannst uns mit der Hilfe deiner silbernen Flöte aus der Dunkelheit wieder ans Licht führen.

Anna (aufgebrachte Stimme)

Ich verstehe das Ganze nicht! Woher wissen Sie, dass ich eine Flöte aus Silber besitze, wie konnten Sie mich überhaupt finden?

Alte Frau

Ein Mädchen kam eines Tages zu mir und erzählte von einem Traum. In diesem Traum sah sie dich Flöte spielend auf einer Wiese sitzen. Sie hörte eine zauberhafte Melodie, die du auf der silbernen Flöte spieltest.

Querflöte Musik ohne Sprecher

Alte Frau (Flöte bis zur Textstelle „ihr werdet sie finden“ verklingend)

Mit dieser Melodie hörte sie eine Stimme, die sprach:

Eine weit entfernte Stimme (mit Flötenmusik)

Das Mädchen mit der silbernen Flöte kann euch retten. Sucht sie im Land der erloschenen Vulkane. Nehmt den Weg der eisigen Winde und ihr, werdet sie finden.

Alte Frau

So machte ich mich auf den Weg, dich zu suchen, und habe dich nun endlich gefunden.

Anna

Und wo liegt euer Land?

Alte Frau

Es liegt gar nicht weit von hier, es liegt hinter dem Steinland mit seinen riesigen Gebirgszügen, gefährlichen Schluchten und eisigen Winden.

Anna

Und wie kommt man dorthin? Ich habe noch nie etwas vom Steinland gehört.

Alte Frau

Wir müssen zu den Höhlen des Eises, sie sind das Tor zu meinem Land.

Erzähler

Das alte Mütterchen erschrak, als plötzlich Annas Mutter aus dem Schatten der Tür hervortrat und sprach:

Annas Mutter

Ich kenne diese Höhlen, man nennt sie die Eishöhlen. Sie liegen verborgen im Tal der Fische. In den Dörfern am Rande des Tales erzählt man sich eine geheimnisumwobene Geschichte. Aber kommt erst einmal ins Haus, damit das alte Mütterchen sich ausruhen und mit einer heißen Tasse Kaffee aufwärmen kann.

Erzähler (Geräusche: Schließen der Tür, Schritte, Kaffeetassen, Teller, Rücken von Stühlen)

Sie gingen ins Haus und setzten sich an den Küchentisch. Als der Duft von frischem Kaffee behaglich in ihre Nasen stieg, begann Annas Mutter zu erzählen:

Musikalische Darstellung: Trommel, Soundsequenzen

Annas Mutter

Die Eishöhlen liegen verborgen in einer Schlucht. Es sind von Menschenhand geschaffene Höhlen. Das sehr harte Gestein, das man aus dem Berg brach, wurde zur Herstellung von Mühlsteinen verwand. Es waren Männer aus den umliegenden Dörfern, die Tag für Tag zu den Höhlen gingen und sich immer tiefer in die Erde gruben. Doch eines Tages entdeckten sie in einer dieser Höhlen eine geheimnisvolle Tür. Sie versuchten sie aufzubrechen, doch nur ein winziger Spalt öffnete sich und aus diesem Spalt drang eine eisige Kälte. Innerhalb kürzester Zeit gefror das Wasser an den Höhlenwänden. Die Männer mussten sehr schnell die Höhle verlassen, denn sonst wären sie vor Kälte erstarrt. Sie liefen zurück in ihre Dörfer und erzählten vom Geschehenen. Am folgenden Tag begaben sich die Männer und Frauen, ja, sogar die Kinder und die Alten aus den Dörfern hinauf zu den Höhlen und was sie dort sahen, verschlug ihnen die Sprache: Riesige Eiszapfen versperrten den Eingang zur Höhle. Eine eisige Kälte kroch aus dem schwarzen Loch empor und legte sich kalt über das Tal. Obwohl es Sommer war, fielen die Blätter der Bäume herbstfarben zu Boden.

Keine Vögel waren zu sehen und zu hören, nicht einmal der Wind traute sich ins Tal. Eine kalte Stille kroch zwischen den Bäumen empor.

Die Mütter nahmen ihre Kinder und verließen den unheimlichen Ort.

Alte Männer und Frauen steckten ihre Köpfe zusammen und sprachen aufgeregt miteinander. Sie glaubten, die geheimnisvolle Tür sei der Eingang zum Ende der Welt.

Stimmengewirr

Das ist der Eingang zum Ende der Welt!

Das Ende der Welt! Ich habe Angst, kommt lasst uns gehen!

Annas Mutter

Dies geschah vor ungefähr 100 Jahren, die Eiszapfen am Höhleneingang sind mittlerweile verschwunden, doch die Kälte dringt immer noch aus dem Inneren empor. Erst Jahre später fassten Männer den Mut und gingen noch einmal, auf der Suche nach der geheimnisvollen Tür, in die Höhle. Doch was sie fanden, waren nur Wände aus Eis.

Erzähler

Annas Mutter blickte misstrauisch zu der Frau mit den traurigen Augen.

Annas Mutter

Kommen Sie vom Ende der Welt?

Erzähler (Geräusch: Wind)

Es wurde für einen Moment ganz still, nur das Rauschen des Herbstwindes drang weich in den Raum.

Alte Frau

Die geheimnisvolle Tür ist nicht der Eingang zum Ende der Welt, es ist der Eingang in eine vergangene und vergessene Welt.

Erzähler (Geräusche: Wind, Regen, Gewitter)

Draußen begann es zu regnen, dunkle Wolken schoben sich langsam über den Horizont und kündigten ein Gewitter an. Die alte Frau erhob sich von ihrem Stuhl und ging zum Fenster.

Alte Frau

Anna! Wir müssen uns auf den Weg machen. Bevor es dunkel wird, müssen wir in der Höhle sein.

Anna (aufgebracht, mit ängstlicher Stimme)

Ich habe noch nicht gesagt, dass ich mit Ihnen gehen werde. Ich finde es schlimm, was in Ihrem Land geschehen ist. Aber ich bin doch noch ein Kind! Wie können Sie nur glauben, dass ein Kind Ihre Welt retten kann?

Mutter! Was soll ich nur tun? Ich habe Angst!

Annas Mutter

Würden Sie uns bitte für einen Moment alleine lassen, ich möchte mit meiner Tochter unter vier Augen sprechen.

Alte Frau

Aber selbstverständlich!

Alte Frau verlässt den Raum (Geräusche: Stuhl, Schritte, Stock, Tür)

Annas Mutter

Anna! Vielleicht bist du wirklich die letzte Hoffnung für die Menschen im Land der Dunkelheit und Stille. Ich bin mir mittlerweile genauso wie die alte Frau sicher, dass deine Silberflöte magische Kräfte hat.

Querflötenmusik (Sophias Lied) in Verbindung mit Sprecher Annas Mutter

Weißt du noch, als deine Schwester Sophia sehr krank war, du nahmst deine Flöte und spieltest ihr eine zauberhafte Melodie vor und kurze Zeit später war sie wieder gesund. Und letzten Sommer, Papa brachte einen verletzten Vogel mit nach Hause, du nahmst die Flöte, spieltest die gleiche Melodie und der Vogel flog davon.

Geräusche von Gewitter und Sturm, Querflötenmusik verklingend

Erzähler

Das Gewitter kam immer näher, Blitze durchdrangen die schwarzen Wolken. Ein Blitz, der in einen nahegelegenen Baum einschlug, erhellte plötzlich den Raum und der darauf folgende, sich über das Tal legende Donner ließ Anna und ihre Mutter vor Schreck erstarren. Durch den grollenden Donner hörten beide die Stimme der Alten.

Alte Frau (Donnerschläge, mystische Stimme)

Sein Sie mir nicht böse, aber ich habe ungewollt alles mitgehört. Jetzt weiß ich es genau, du bist die Auserwählte, die mein Land retten wird.

Erzähler (Donnerschläge weit entfernt)

Anna schaute zu der Alten und sah in ihrem traurig stillen Gesicht ein weiches Lächeln. Von diesem Moment an wusste sie, dass sie mitgehen würde.

Das Gewitter ließ langsam nach, die schwarzen Wolken schoben sich gemächlich Richtung Westen und das Licht der Nachmittagssonne legte sich noch einmal warm über die herbstfarbene Eifellandschaft.

Der Weg zu den Höhlen

Erzähler

So verließen Anna und die Alte das Dorf, ihr Weg führte über weiche Hügel und steinige Pfade in das Tal der Kasselburg. Sie kamen dem Wald, der dunkel und kalt vor ihnen lag, immer näher.

Anna (ängstlich)

Mütterchen! Wir dürfen nicht diesen Weg nehmen, er führt uns direkt in die Wälder der Wölfe.

Alte Frau

Ja, ich weiß! Aber es ist der kürzeste Weg. Die Sonne steht schon sehr tief und wir müssen, bevor es dunkel wird, in der Höhle sein. Wölfe streifen erst bei Nacht durch die Wälder.

Anna

Aber was ist, wenn sie doch ...?

Klagendes Geheul eines Wolfes, weit entferntes Gewitter. (Donner geht über in einen sehr tiefen es-Moll-Akkord, Geräusche von Schritten durch feuchtes Laub, knackende Äste.)

Erzähler

Ein eiskalter Schauer lief beiden über die Haut, sie blieben stehen und schauten sich ängstlich um. Erst jetzt bemerkten sie, dass sie schon mitten im Wolfswald waren.

Moosbewachsene Felsbrocken und abgestorbene Bäume ließen den Wald unwirklich und geheimnisvoll erscheinen, als wäre es ein Märchenwald.

Fast lautlos schlichen sie im fahl grünen Dämmerlicht des Waldes durch feuchtes Laub, und auf dem von verrotteten Blättern bedeckten Boden wuchs nichts als nur ein paar Pilze.

Ab und an war das Geschrei einer Eule zu hören, klagend, unheimlich.

Geschrei einer Eule

Erzähler

Sie stiegen über morsche Bäume und gelangten immer tiefer in den Wald. Schatten huschten lautlos an Felsblöcken vorbei. Beide hatten das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden. Sie wussten, dass sie den Wald schnellstmöglich verlassen mussten.

Doch es war zu spät, aus allen Richtungen kamen die Wölfe und umkreisten sie. Wie erstarrt standen beide da, es gab für sie keinen Ausweg.

Und die Wölfe zogen ihren Kreis immer enger.

Alte Frau

Wir sind verloren.

Anna (mit panischer Stimme, fast weinend)

Warum bin ich nur mitgegangen? Nur weil meine Flöte ...?

Erzähler

Anna blickte zu der Alten, die ängstlich an einem Baum kauerte.

Anna

Die Flöte, ich muss auf ihr spielen!

Erzähler (mit Flötenmusik „ Das Lied der Wölfe“)

Anna nahm ganz vorsichtig ihren Rucksack vom Rücken, die Wölfe hatten ihren Kreis mittlerweile so eng gezogen, dass sie sogar ihren Atem riechen konnte.

Mit zitternden Händen griff sie in den Rucksack hinein, nahm die silberne Flöte, setzte sie an ihre Lippen und spielte.

Die Melodie, die sie aus ihrer Flöte hervorzauberte, überraschte sie selbst. Sie klang fröhlich und klagend zugleich, als ahmte sie in ihrem Spiel das Geheul der Wölfe nach.

Und das Unfassbare geschah, die Wölfe zogen sich langsam in das Labyrinth des Waldes zurück.

Noch ganz verstört von dem Erlebten, setzten beide ihren Weg zu den Höhlen fort. Anna hörte, wie die Alte vor sich hinmurmelte.

Alte Frau (sehr leise)

Ja, ich wusste es, sie ist die Auserwählte, die uns retten wird.

Erzähler

Sie verließen den Wald und stiegen einen steilen Abhang in das Tal der Kyll hinab.

Regen, ein leichter Wind, Geräusche des Flusses